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Imaginäre Räume sind Räume des Imaginären, ihre bildliche Konstruktion weist auf sich als Konstruktion zurück und zugleich, in deren Vorstellung, über sich hinaus. Die Realität des Imaginären ist ein Prozess, der die Idee einer anthropologischen Bestandsaufnahme künstlerischer Formen sprengt, wie sie André Malraux mit seinem musée imaginaire einmal vorgeschwebt haben mag. Mit der allgegenwärtigen Virtualität digitalisierter Bilder ist ein unüberschaubarer Großraum des Imaginären entstanden, der im Gegenzug einen permanenten Austausch von Rekonstruktionen persönlich überschaubarer Lebenszusammenhänge provoziert. Diese Rekonstruktionen legen Schnitte in die Welt und erweitern so das Spektrum möglicher Rückkopplungen ebenso nach Innen wie nach Außen. Optimistisch formuliert, holen sie die technische Virtualität globaler Verfügung in der widerständigen Transformation lebenspraktischer Verhältnisse wieder ein. |
Rekonstruktion hieße, etwas Zurückgebliebenes oder Verlassenes in veränderten Kontexten wiederzugewinnen, neu zu erleben. So wird die Spannung zwischen horizontgebundener Stabilität und dem Chaos gestisch strukturierter Farbballungen, die für viele der früheren Arbeiten von Eva Schlutius charakteristisch ist, seit etwa 2013 in einer neuen bildräumlichen Dramaturgie erweitert. Sie entfaltet die verborgene, unstrukturierte Komplexität dieser kraftvollen Selbstbehauptungen zu einer unverborgenen räumlichen Durchsichtigkeit. Die Gestalthaftigkeit der konstruktiv-expressivisch ineinander verschlungenen Gestik klärt sich durch die Freistellung des in dieser Abstraktheit aufgehobenen figurativen Moments zu einem ›Spiel mit offenen Karten‹. In ihm korreliert die Magie der Konstruktivität bildlicher Räume mit der erzählerischen Magie malerischer Gestalthaftigkeit als Ausdruck traumhafter und exotischer Imaginationen von Mädchen und Märchen, von Tieren und Pflanzen. |
Eva Schlutius’ Bilder in der Vielfalt ihrer Abstraktionsformen und deren Zusammenhang zu betrachten heißt, sich selbst die Karten zu legen; sich in den überraschenden Möglichkeiten von Konstellationen, die aus der Unterschiedlichkeit dieser Bilder resultieren, mit den eigenen Vorstellungen zu konfrontieren und darin der sie ermöglichenden Einbildungskraft zu begegnen. Wir interagieren mit einer imaginären ‚Grammatik’ des Raums, die der Idee der Konstruktion seiner Darstellbarkeit und Beschreibbarkeit aus naturwüchsiger, leibhaftiger Erfahrung folgt. Malerei als Malerei rekonstruiert sie als handwerklichen Prozess einer in sich reflektierten, in mimetischer Konzentration ausgeübten Praxis. |
Dass wir den Raum vom Körper und dessen Grenzen her denken, geht in unserem alltäglichen Selbstverständnis ebensowenig verloren wie die Anschauung des Sonnenuntergangs als Bild. In beiden Fällen muss jedoch der leibhaftige Selbstbezug im Spannungsfeld von in sich gegenläufigen Abstraktionsformen verstanden werden: einer theoretisch begründeten Vorstellung von Realität einerseits sowie der Projektion einer ganzheitlichen Empfindung ihrer gestalthaften Anschaulichkeit andererseits. Der existentielle Schritt durch die Unanschaulichkeit von theoretischen Abstraktionen hindurch schafft ein eigenes Bewusstsein für die Realität von Brüchen in den bildnerischen Möglichkeiten, sinnliche Erfahrungen zu verorten. |
Diese doppelte Abstraktion reflektiert sich in der Konstruktivität der Farbe als materiales Ereignis. Ihre malerische Selbstbezüglichkeit ist Ausdruck eines in der Raumerfahrung gründenden Sprachsinns, dessen Artikulation seiner aus ihr folgenden Bedeutung intuitiv vorausgeht. So wie wir als Betrachter – und zuvor die Künstlerin als Beobachterin ihrer selbst – den freigelegten Pfaden von Erkundungen und Entdeckungsreisen gestalterischer Sinnlichkeit folgen. Auf den Spuren der ungreifbaren Sinnlichkeit imaginärer Gestalten eröffnen sich nach und nach unwirkliche Zwischenräume. Wenn wir diesen Gedanken weiter ausspinnen, führt er uns zu einer zeitgemäßen Annäherung an das Wunderland, das einst Alice durchquerte. |
Eva Schlutius’ Bilder stehen quer zur wörtlichen Eindeutigkeit der Bezeichnungen ihrer Titel, darin in einer Wechselwirkung von gleichermaßen offenen wie gerichteten Assoziationen. Die malerische Welt wird zu einem eigenen Sprachraum, den die Titel an die vorhandenen Sprachkonventionen – nicht immer konventionell – zurückbinden. Eva Schlutius’ Exkursionen in dieser Welt leiten ins Bilderreich einer sich selbst erzählenden Grammatik imaginärer Räume. Punkte, Linien und Flächen werden zueinander ins Verhältnis gesetzt und führen dadurch über sich hinaus, sowohl vereinseitigt als auch szenisch arrangiert. Im imaginären Raum der Selbstbegegnung wird das ›Spiel mit den Karten‹ zur Freiheit persönlicher Offenheit im Umgang mit Eva Schlutius’ Bildern. Sind uns die Karten gewogen, finden wir darin den Einstieg in unser eigenes Wunderland. |
Wolfgang Siano Berlin, 26. Juli 2016
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