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Wolfgang Siano

Die imaginären Räume der Eva Schlutius

 

 

Imaginäre Räume sind Räume des Ima­gi­nären, ihre bild­liche Kon­struk­tion weist auf sich als Kon­struk­tion zurück und zugleich, in deren Vor­stel­lung, über sich hinaus. Die Rea­li­tät des Ima­gi­nären ist ein Prozess, der die Idee einer anthro­po­lo­gi­schen Be­stands­auf­nah­me künst­le­ri­scher For­men sprengt, wie sie André Malraux mit sei­nem musée imagi­naire ein­mal vor­ge­schwebt haben mag. Mit der all­ge­gen­wär­ti­gen Vir­tu­a­li­tät digi­ta­li­sier­ter Bilder ist ein un­über­schau­barer Groß­raum des Ima­gi­nä­ren ent­standen, der im Gegen­zug einen per­ma­nen­ten Aus­tausch von Re­kon­struk­tio­nen per­sön­lich über­schau­barer Le­bens­zu­sammen­hänge provo­ziert. Diese Re­kon­struk­tionen legen Schnitte in die Welt und er­weitern so das Spek­trum mög­li­cher Rück­kopp­lungen eben­so nach Innen wie nach Außen. Opti­mis­tisch for­mu­liert, holen sie die tech­ni­sche Vir­tu­a­li­tät glo­ba­ler Ver­fü­gung in der wider­stän­di­gen Trans­for­ma­tion lebens­prak­ti­scher Ver­hält­nisse wieder ein.

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Rekonstruktion hieße, etwas Zurück­ge­blie­be­nes oder Ver­lasse­nes in ver­än­der­ten Kon­texten wieder­zu­ge­winnen, neu zu er­leben. So wird die Span­nung zwischen hori­zont­ge­bun­de­ner Sta­bi­li­tät und dem Chaos ges­tisch struk­tu­rier­ter Farb­bal­lun­gen, die für viele der frü­he­ren Arbeiten von Eva Schlutius cha­rak­te­ris­tisch ist, seit etwa 2013 in einer neuen bild­räum­li­chen Drama­tur­gie er­wei­tert. Sie ent­faltet die ver­bor­ge­ne, un­struk­tu­rierte Kom­plexi­tät dieser kraft­vollen Selbst­be­haup­tungen zu einer un­ver­bor­ge­nen räum­li­chen Durch­sich­tig­keit. Die Gestalt­haf­tig­keit der kon­struk­tiv-expres­si­visch inei­nan­der ver­schlun­ge­nen Gestik klärt sich durch die Frei­stel­lung des in dieser Ab­strakt­heit auf­ge­ho­be­nen figu­ra­ti­ven Moments zu einem ›Spiel mit offe­nen Kar­ten‹. In ihm korre­liert die Magie der Kon­struk­ti­vi­tät bild­li­cher Räume mit der erzäh­le­ri­schen Magie male­ri­scher Gestalt­haf­tig­keit als Aus­druck traum­hafter und exo­ti­scher Imagi­na­tio­nen von Mäd­chen und Mär­chen, von Tieren und Pflanzen.

Eva Schlutius’ Bilder in der Vielfalt ihrer Abstraktions­formen und deren Zusammen­hang zu betrachten heißt, sich selbst die Karten zu legen; sich in den über­raschen­den Möglich­keiten von Kon­stella­tionen, die aus der Unter­schied­lich­keit dieser Bilder resul­tieren, mit den eigenen Vor­stel­lun­gen zu konfrontieren und darin der sie er­mög­li­chen­den Ein­bildungs­kraft zu begegnen. Wir inter­agieren mit einer imagi­nären ‚Grammatik’ des Raums, die der Idee der Kon­struk­tion seiner Dar­stell­bar­keit und Be­schreib­bar­keit aus natur­wüchsiger, leib­haftiger Erfah­rung folgt. Malerei als Malerei re­kon­struiert sie als hand­werk­lichen Prozess einer in sich reflek­tier­ten, in mime­ti­scher Kon­zen­tra­tion aus­ge­übten Praxis.

Dass wir den Raum vom Körper und dessen Grenzen her denken, geht in unse­rem all­täg­li­chen Selbst­ver­ständ­nis eben­so­wenig ver­loren wie die An­schauung des Sonnen­unter­gangs als Bild. In beiden Fällen muss jedoch der leib­haftige Selbst­bezug im Spannungs­feld von in sich gegen­läu­fi­gen Abstrak­tions­formen ver­stan­den werden: einer theo­retisch be­grün­de­ten Vor­stellung von Reali­tät einer­seits sowie der Pro­jek­tion einer ganz­heit­li­chen Empfin­dung ihrer gestalt­haften Anschau­lich­keit anderer­seits. Der exis­ten­tielle Schritt durch die Un­an­schau­lich­keit von theo­re­ti­schen Abstrak­tionen hin­durch schafft ein eigenes Bewusst­sein für die Realität von Brüchen in den bild­ne­ri­schen Mög­lich­kei­ten, sinnliche Erfah­rungen zu ver­orten.

 



 

 

Diese doppelte Abstraktion reflektiert sich in der Konstruk­tivität der Farbe als mate­ria­les Ereig­nis. Ihre maleri­sche Selbst­be­züg­lich­keit ist Aus­druck eines in der Raum­er­fah­rung grün­den­den Sprach­sinns, dessen Arti­ku­la­tion seiner aus ihr folgen­den Be­deu­tung intui­tiv voraus­geht. So wie wir als Be­trach­ter – und zuvor die Künst­lerin als Be­o­bach­terin ihrer selbst – den frei­ge­leg­ten Pfaden von Er­kun­dun­gen und Ent­deckungs­reisen ge­stal­te­ri­scher Sinn­lich­keit folgen. Auf den Spuren der un­greif­baren Sinn­lich­keit imagi­närer Gestal­ten eröff­nen sich nach und nach un­wirk­liche Zwischen­räume. Wenn wir diesen Gedanken weiter aus­spinnen, führt er uns zu einer zeit­ge­mäßen An­nähe­rung an das Wunder­land, das einst Alice durch­querte.

 

 

Eva Schlutius’ Bilder stehen quer zur wört­li­chen Ein­deu­tig­keit der Be­zeich­nun­gen ihrer Titel, darin in einer Wechsel­wirkung von gleicher­maßen offenen wie gerich­teten Asso­zia­tio­nen. Die male­ri­sche Welt wird zu einem eige­nen Sprach­raum, den die Titel an die vor­han­de­nen Sprach­kon­ven­tio­nen – nicht immer kon­ven­tio­nell – zurück­binden. Eva Schlutius’ Exkur­sio­nen in dieser Welt leiten ins Bilder­reich einer sich selbst erzäh­len­den Grammatik ima­gi­nä­rer Räume. Punkte, Linien und Flächen werden zu­einan­der ins Ver­hält­nis gesetzt und führen dadurch über sich hinaus, sowohl ver­ein­seitigt als auch szenisch arran­giert. Im imagi­nä­ren Raum der Selbst­be­geg­nung wird das ›Spiel mit den Karten‹ zur Frei­heit per­sön­li­cher Offen­heit im Um­gang mit Eva Schlutius’ Bildern. Sind uns die Karten gewo­gen, finden wir darin den Ein­stieg in unser eigenes Wunder­land.

 

 

 

Wolfgang Siano

Berlin, 26. Juli 2016














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